Organisationsethik bereichert

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Eine qualitative Studie in vier Einrichtungen der Caritas Wien zeigt, wie wichtig Partizipation, Orte für ethische Reflexion und qualifizierte Teamleitungen sind.

Ethik ist eine Ressource. Dieser Grundthese folgend investiert die Caritas der Erzdiözese Wien in ihrem Strategie-Prozess 2020 viel im Bereich Organisationsethik und Wertearbeit. Organisationsethik schafft Raum für ethische Reflexion über das Gute in organisationalen Strukturen und Prozessen. Sie hilft, Handlungsspielräume sowohl individuell als auch organisational abzusichern.

In einer qualitativen Studie [1] aus dem Jahr 2016 wurde in vier Caritas-Einrichtungen der Bereiche Menschen mit Behinderung, Wohnungslosenhilfe und Pflege untersucht, inwiefern eine implementierte Organisationsethik eine Ressource für Mitarbeitende im beruflichen Alltag ist. 17 hauptberufliche Mitarbeiter(innen) – von der Reinigungskraft bis zur Teamleitung – wurden befragt.

Die Mehrheit der Mitarbeiter(innen) kennt die Leitbilder auf Bereichs- und Organisationsebene kaum. Doch auch wenn sie diese Dokumente in ihrer täglichen Arbeit nicht verwenden, beschreiben sie implizite Haltungen, die sich mit der Grundausrichtung der Caritas decken. „Wer sind die Schwächsten?“ ist zum Beispiel für eine teilnehmende Mitarbeiterin eine wiederkehrende Frage in der Caritas. Die zentralen drei Werte sind für die Befragten der Einsatz für die Schwächsten, Empathie und Beteiligung.

Die Mitarbeitenden erzählen von Situationen, in denen diese Werte herausgefordert sind. Sie kämpfen im beruflichen Alltag für Zukunftsperspektiven wohnungsloser Menschen, insbesondere wenn Rechtsvorschriften dem Einzelfall nicht gerecht werden. In der mobilen Pflege sind sie für bedürftige Menschen da, auch wenn die Finanzierung unsicher ist. In der Behindertenarbeit treten Spannungen zwischen Autonomie und objektivem Wohl eines Klienten auf.

Ethische Dilemmata wie diese bedürfen einer argumentierenden Reflexion normativer Fragen. Für Ruth Großmaß, Professorin für Ethik der Sozialen Arbeit i.R. (Alice Salomon Hochschule Berlin), sind Kennzeichen der gegenwärtigen Sozialen Arbeit eine der Professionalisierung geschuldete, abstrakte Solidarität und eine Beziehungsasymmetrie, d.h. ein Machtgefälle zwischen Sozialarbeiter(inne)n und Klient(inn)en. In ihrem Artikel „Das kann ich nicht mehr verantworten! Ethische Reflexion in der Sozialen Arbeit“ [2] beschreibt sie den Anspruch an die Soziale Arbeit, mit sozialen und kulturellen Differenzen adäquat umzugehen und zugleich die individuelle Identität einzubeziehen. Für Großmaß ist ethische Reflexion erforderlich, um als Sozialarbeiter(in) sensibel mit Diversität und dem vorhandenen Machtgefälle umzugehen. Für eine „gute“ Praxis müssen Entscheidungen überprüft und Handlungsspielräume gesichert werden, zum Beispiel durch eine Organisationsethik.

Deutlich wird durch die Studie, was partizipative Prozesse und ein „Zu-eigen-Machen“ des Leitbilds bewirken. Sehr präsent ist das Leitbild der Behindertenarbeit, das in einem breit angelegten Erarbeitungsprozess erstellt wurde, in dem auch die Klient(inn)en eingebunden waren. In diesem Sektor werden im beruflichen Alltag Bezüge zum Leitbild hergestellt, und es wird von den Befragten als „unser Leitbild“ gesehen.

Ethik organisieren

Reflexion braucht entsprechende Räume und Zeiten. In der Studie wird deutlich, dass Teamsitzungen und Supervision die privilegierten Orte dafür sind: „In der Supervision nehmen wir alle Themen der Kollegen durch und versuchen, einen gemeinsamen Lösungsweg zu finden.“ Hat eine Entscheidung hohe Relevanz und große Auswirkungen, wird Konsens angestrebt. Mehrere Zugänge zu einer Frage ermöglichen für die Befragten bessere Lösungen, weil unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen: „Es gibt bei uns keine gravierenden Entscheidungen, die nur von einer Person gefällt werden.“ Mitarbeitende erzählen, dass sie immer wieder das Vier-Augen-Prinzip anwenden: „Wenn ich im Zwiespalt stehe, halte ich Rücksprache.“

Andreas Heller und Thomas Krobath, Herausgeber des 2010 erschienenen Handbuchs „Ethik organisieren“ [3], nennen diese Räume „ethische Arrangements“, die je nach Organisationskontext unterschiedlich ausgestaltet sein können. Entscheidend ist, dass sie „Orte der Differenz“ sind, die das Alltagsgeschäft unterbrechen. Auch Gefühle wie Betroffenheit oder Sprachlosigkeit finden Platz und werden in den Entscheidungsprozess integriert. Für Heller und Krobath sind solche Unterbrechungen entscheidend für die (Über-)Lebensfähigkeit von Organisationen. Nur wenn diese ihre Herausforderungen und Grundwidersprüche reflektieren und bearbeiten, können sie ihre Relevanz behalten.

Gerade in widersprüchlichen Situationen entlastet eine Organisationsethik den Einzelnen und trägt zur Demokratisierung und Humanisierung arbeitsspezifischer Kontexte bei. Ethik betrifft dann nicht nur Führung und Management, sondern alle organisationalen Strukturen und Prozesse. Ein Teamleiter beschreibt es so: „Wenn man die Möglichkeit hat, sich kurz rauszunehmen und zu schauen: Okay, wo will ich denn hin? Dann geht es ein Stück weit einfacher.“

In der Studie legen die Befragten dar, welche Ressourcen vonseiten der Organisation gutes Arbeiten und gutes Entscheiden stützen. Sie nennen Fortbildung, Gesundheitsprävention, Vereinbarkeit mit Familie und eine kompetente Leitung.

Schlüsselposition Führungskraft

Die Rolle der Leitung für gutes Arbeiten wird mehrfach betont, und anspruchsvolle Anforderungen werden an sie gestellt: hohe Kommunikationsfähigkeit, Nähe zur Basis, Fachkompetenz, persönliche Mitarbeiterführung, Schutzfunktion für die Mitarbeitenden nach außen und Leadership-Qualitäten. Eine Mitarbeiterin beschreibt es so: „Die Chefin stellt sich je nach Situation vor, neben oder hinter mich.“

Im Hinblick auf Organisationsethik hat die Führungskraft eine „Enabler“-Funktion, indem sie Ressourcen schafft und für eine Moderation sorgt. Neben personeller und finanzieller Freiräume ist die Zeit ein wichtiger Faktor, denn Zeitdruck erschwert qualitätsvolle ethische Entscheidungen. Es ist besser, nur ausgewählte Themen einem organisationsethischen Prozess auszusetzen. Die Moderation mit der nötigen Prozesskompetenz wird von einer internen oder externen Person übernommen.

Führungskräfte sichern für ihr Team auch Handlungsspielräume ab. Ein befragter Mitarbeiter erzählt: „Die Leitung springt da ein, wo sie unterstützen kann oder wo Richtlinien von oben eingehalten werden müssen. Sie unterstützt auch dabei, Richtlinien ein bisschen auszudehnen, wenn es im Sinne der Klienten ist.“ Hier wird die politische Dimension einer Organisationsethik deutlich. Eine bewusste Reflexion der Caritas-Werte stützt nach innen und ermöglicht eine bessere Kommunikation nach außen.

Innovative Fortbildung durch Werte-Reisen

Die Caritas Wien ist eine große Organisation mit aktuell 5.300 Mitarbeiter(inne)n. In der Implementation einer Organisationsethik bezieht sie Mitarbeitende aller Ebenen repräsentativ mit ein. In den vergangenen Jahren wurden sogenannte Ethik-Cafés in Einrichtungen und Fortbildungen zu „Art of Hosting“ angeboten. Es handelt sich dabei um einen partizipativen Stil für gemeinschaftliche Prozesse, der sich als „Kunst des Gastgebens und Erntens guter Gespräche“ versteht und weltweit eingesetzt und weiterentwickelt wird. Die Caritas bemüht sich in der Kommunikation um einen sensiblen Umgang mit Sprache, damit christliche Begriffe wie Barmherzigkeit, Nächstenliebe oder Gerechtigkeit für Beteiligte – auch Mitarbeitende – nicht abstrakt bleiben.

Sogenannte Werte-Reisen sind Teil eines neuen Fortbildungskonzepts für Wertebildung, das die Caritas Wien entwickelt hat. Führungskräfte besuchen Einrichtungen in einer anderen Region und erschließen in Kleingruppen vorhandene Werthorizonte. Mithilfe von „Storytelling“ werden Geschichten erzählt und Bilder gefunden, warum es wert ist, diese Arbeit zu tun. Diese Methode ist hilfreich, um implizites Wissen zu heben und sichtbar zu machen. Bei einer Werte-Reise des Bereichs Menschen mit Behinderung war Demut der am häufigsten genannte Wert. Die Auseinandersetzung mit Haltungen und Werten baut eine Brücke zwischen den Rahmenvorgaben des Leitbilds und der täglichen Praxis.

Ethik im Spontanaustausch und in der Jahresklausur

Die Studie macht exemplarisch deutlich, wie in Einrichtungen der Caritas Wien Organisationsethik gelebt wird. Ethisches Nachdenken geschieht in unterschiedlichen Kontexten vom Spontanaustausch über die Kaffeepause bis zur Jahresklausur. Diese Orte unterscheiden sich in ihrer Formalisierung und Routinisierung und haben alle ihren spezifischen Wert.

Organisationsethik gibt den befragten Mitarbeiter(inne)n Sicherheit für ihr autonomes Handeln, stellt aber zugleich erhöhte Anforderungen an Führungskräfte. Darüber hinaus ist gemeinsame, ethische Reflexion zeitintensiv und erfordert eine Themenselektion. Die Caritas Wien forciert im laufenden Strategie-Prozess 2020 Fortbildungen in diesem Bereich, damit Ethik noch stärker als Ressource wahrgenommen und genützt wird.

Anmerkungen:

[1] Die Studie wurde im Rahmen einer Masterarbeit im Studiengang „Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit“ am FH Campus Wien erstellt: Peter Rinderer: Ressource Ethik. Partizipation und Unterstützung hauptberuflicher MitarbeiterInnen der Caritas Wien durch eine Organisationsethik, 2016.

[2] Ruth Großmaß: Das Kann ich nicht mehr verantworten! Ethische Reflexion in der Sozialen Arbeit. In: Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen (Hrsg.): Soziale Arbeit. 65 (3/2016). 89-101.

[3] Thomas Krobath (Hrsg.), Andreas Heller (Hrsg.): Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik. Freiburg: Lambertus, 2010.

(Dieser Artikel erschien in „neue caritas“ 14/2017, Foto: pixabay.com/Anemone123)