„Mindestens 300 Straßenkinder in Wien: Jugendämter und Familien überfordert“ titelte das Wochenmagazin profil im Juli 2010. Wie ist heute die Situation junger Obdachloser in der Bundeshauptstadt? Diese Frage versuchte ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit im Studiengang Soziale Arbeit zu beantworten. Eine Zusammenfassung.
„Die größte Gruppe aller Wohnungslosen in Wien ist jung“, betonte ein Caritas-Mitarbeiter in einem der durchgeführten Experteninterviews deutlich. Durch Interviews mit mehreren Expertinnen und Experten zeichnete ich ein Bild über diese Form der Jugendnot, das zwar nicht vollständig ist, aber Konturen mit einigen Details liefert. Die Gründe für Obdachlosigkeit sind vielfältig, weshalb besser von Risikofaktoren oder Vulnerabilitäten gesprochen wird.
Bei jungen Obdachlosen – in dieser Arbeit bezog ich mich auf die Altersspanne von 15 bis 30 Jahren – stehen an erste Stelle familiäre Faktoren wie Gewalt, Missbrauch, Suchtverhalten oder Scheidung der Eltern, häufige Wohnungswechsel oder fehlende Fürsorge. Weitere bedeutsame Risikofaktoren sind materielle Armut, psychische Erkrankungen, Drogenkonsum, Überschuldung oder Ausbildungs- bzw. Schulabbruch mit darauffolgender Arbeitslosigkeit. Direkter Auslöser ist dann meist eine hinzukommende, akute Krise.
Gerade wegen der Komplexität der biografischen Wege Obdachloser muss sich man sich vor unüberlegten Vorurteilen hüten. Eines davon lautet „Die tun ja den ganzen Tag nichts!“, doch vielmehr ist es so, dass obdachlose Menschen ein Rückzugsraum fehlt und sie viel Zeit zur Absicherung ihrer Grundbedürfnisse benötigen. Sie sehnen sich nach den ganz „normalen“ humanen Freiheitswerten, die ihnen aber derzeit verwehrt bleiben: Teilhabe, Individualität, Privatraum, Unterstützung unter der Wahrung der Autonomie oder Sicherheit in der Gemeinschaft, um nur einige zentrale zu nennen. Manche meinen diese auf der Straße zu finden und bleiben dort, andere wünschen sich nichts sehnlicher als eine Rückkehr in die Normalität, z.B. durch eigenen Wohnraum und ein abgesichertes Leben.
Laut Statistik der Wiener Wohnungslosenhilfe wurden im Jahr 2011 über 2000 unter 30-Jährige beraten und ca. 1300 junge Erwachsene nahmen ein Wohn- oder Betreuungsangebot in Anspruch. Die Zahl junger Menschen auf der Straße wird auf mehrere Hundert geschätzt. Indikator dafür sind die Nächtigungszahlen in a_way, der einzigen Jugendnotschlafstelle Wiens. Insgesamt ist die sichtbare Wohnungslosigkeit stärker männlich geprägt, weil Frauen zuerst Zweckgemeinschaften eingehen, in denen sie aber leider nicht selten sexuell ausgebeutet werden.
Ja, in Wien gibt es ein differenziertes Stufensystem für Wohnungslose mit hohen Qualitätsstandards. Und trotzdem sagen wohnungslose Jugendliche: „Bringt ja nichts! Die können mir eh nicht helfen!“ Und andere wünschen sich: „Ich möchte endlich meine eigene kleine Wohnung, mir fehlt die Privatsphäre!“ Erstere werfen die Frage nach der Niederschwelligkeit und der Erreichbarkeit auf, für die anderen könnte „Housing first“ interessant sein: Schnellen eigenen Wohnraum mit ambulanter Betreuung – ein als nachhaltig gepriesener Ansatz aus den USA.
Die Experten betonen, dass in Wien trotz des differenzierten Hilfesystems die Bedürfnisse junger Wohnungsloser zu wenig beachtet werden. Junge Erwachsene wurden als eine besonders gefährdete Zielgruppe identifiziert. „Nicht mehr und noch nicht“ – sie fallen nicht mehr in die Jugendhilfe, sind aber noch nicht fähig ihr Leben selbstverantwortlich zu bestreiten. Wien bräuchte ein Tageszentrum speziell für junge Wohnungslose mit ambulanten Angeboten und Arbeitstraining, denn eine Integration in Arbeitsprozesse gibt den Tagen Struktur und stärkt das Selbstwertgefühl. Wichtig wäre auch ein niederschwelliges Übergangswohnen, wobei niederschwellig meint, dass Drogenkonsum toleriert wird. Derzeit gibt es nur eine Einrichtung des Übergangswohnens speziell für junge Erwachsene, in der als Grundvoraussetzung alle clean sein müssen. Wer das (noch) nicht ist, kommt in eine allgemeine Einrichtung – mit wenig förderlichen Bedingungen für junge Leute.
Eine weitere Frage war mir noch wichtig: Macht eine christliche Grundhaltung – konkret die Pädagogik Don Boscos – in der Arbeit mit Wohnungslosen einen Unterschied? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, fuhr ich zur Don-Bosco-Einrichtung nach Berlin-Marzahn, einem Tageszentrum mit Arbeitstraining für schwervermittelbare junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren. Das Team arbeitet dort nach Grundsätzen wie „Schön, dass du da bist“, „Vor Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle“, „Wir suchen das individuell Beste“, „Nicht Not verwalten, sondern Not verwandeln“ oder „Den Himmel offen halten“. Diese gelebte Haltung der Würde und des Zutrauens gegenüber jungen Menschen stellt wirklich einen Mehrwert dar. Fachwissen und Professionalität sind die Basis jedes caritativen Handelns, doch die Liebe und die wohlwollende Haltung gegenüber jeder menschlichen Person macht dann den entscheidenden Unterschied aus. Hier kann Don Bosco auch heute ein Vorbild sein.
Dieser Artikel fasst in groben Zügen folgende Arbeit zusammen:
RINDERER, Peter (2012): Auf der Straße. Pilotstudie zur Obdachlosigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Wien. Bachelorarbeit zur Abschlussprüfung als Bachelor of Arts in Sozialer Arbeit. Katholische Stiftungsfachhochschule München, Abteilung Benediktbeuern.
(Erschienen in „Gespräche im Grätzl“, März 2013)