Wien-Krakau: 15 Jugendliche fuhren die 545 Kilometer mit eigener Muskelkraft. Die Werke der Barmherzigkeit begleiteten sie auf dem Pilgerweg.
Die Mittagssonne brennt kräftig herunter und Schweißtropfen perlen über die Gesichter. Mit langsamem Tritt schlängelt sich eine Radgruppe den Pass zwischen der Slowakei und Polen hinauf. Ihr Ziel ist das Weltjugendtreffen in Krakau. Die 15 jungen Radfahrerinnen und Radfahrer unter Begleitung von zwei Salesianern Don Boscos pilgern sportlich zum Jugendtreffen und legen die 545 Kilometer ab Wien mit dem Fahrrad zurück. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen übernachten mit Schlafsack und Isomatte in Pfarr- und Ordenshäusern und kochen, essen und beten gemeinsam. Nach einem langen Radtag ist der Hunger umso größer.
Eine aus der Gruppe ist die 22-jährige Judith. Die Psychologiestudentin ist bereits zum dritten Mal bei einem Weltjugendtag dabei und freut sich riesig auf Krakau: „Die Vigilfeiern mit dem Papst und die Übernachtung im Freien waren für mich unvergessliche Momente.“ Sie erinnert sich gerne an die „Gastfreundschaft, das Gruppengefühl und die tolle Stimmung“ in Madrid und Rio de Janeiro zurück. Was an einem Weltjugendtag so besonders ist? Für Judith sind es die neuen Bekanntschaften aus der ganzen Welt und die verbindende Kraft des katholischen Glaubens. Dieses Mal hat sie sich für die Radwallfahrt nach Krakau entschieden und ist dankbar: „Die Anstrengungen waren schon groß, doch die Genugtuung es gemeinsam geschafft zu haben noch größer.“ Sie ist beeindruckt von den vielfältigen Landschaften auf der Strecke und dem Zusammenhalt in der Gruppe. „Für mich war es eine intensive Vorbereitung auf Krakau, denn wir haben uns mit den Werken der Barmherzigkeit beschäftigt und beim Radfahren war viel Zeit zum Nachdenken“, ergänzt sie.
Burgen und Badeseen
Sieben Tage dauert der Pilgerweg nach Krakau mit dem Fahrrad. Von Wien über das Weinviertel führt der Weg durch slowakisches Hügelland an Sonnenblumenfeldern und Burgen vorbei. In Šaštín, dem bedeutendsten Marienwallfahrtsort der Slowakei, macht die Gruppe Mittagspause und betet in der Basilika. Anschließend schenkt ein Badesee eine willkommene Abkühlung. Die Radpilger fahren das Waagtal hinauf nach Trenčín und besichtigen dort die königliche Burg aus dem 11. Jahrhundert, die über der Stadt thront und eine imposante Aussicht bietet. Am Stadtplatz von Žilina spielt beim Eis genießen sogar eine Live-Band slowakische Lieder. Die Königsetappe der Tour führt die Gruppe von Žilina über einen Pass in den Westkarpaten nach Polen, wo die Radpilger in Szczyrk, einem Marienwallfahrtsort in den Bergen, Aufnahme finden. Die mehr als 1.200 Höhenmeter allein an diesem Tag kosten viel Kraft.
„Stopp, eine Panne!“, kommt es von hinten und der Fahrradtross verlangsamt sich bei der nächsten Haltebucht. Ein platter Reifen kann auf einer langen Strecke immer passieren. Das Werkzeugset wird ausgepackt, der Reifen abmontiert und innerhalb von 20 Minuten ist alles repariert und es geht weiter. Technische Gebrechen werfen die Gruppe zeitmäßig zurück, doch das ist für niemanden ein Grund aufzugeben. Um den richtigen Weg zu finden, helfen genaue Radkarten und der Abgleich der aktuellen Position mittels GPS. Die drei Navigatoren der Gruppe halten vor einer Kreuzung an und beraten sich kurz über den weiteren Weg. Schutzengel braucht es auf einer internationalen Radwallfahrt einige. Einmal sind es zu umfahrende Schlaglöcher auf schnellen Abfahrten, ein andermal knapp überholende LKWs auf Bundesstraßen. Kilometer um Kilometer fahren sie im Windschatten hintereinander und kommen dem großen Ziel Krakau immer näher.
Barmherzigkeit modern
Eine wichtige Aufgabe hat Pater Otto. Der 59-jährige Salesianerpater fährt den Begleitbus und schaut, dass es allen gut geht: „Ich bin positiv überrascht, wie gut die Jugendlichen auf der Radwallfahrt harmonieren und sich gegenseitig unterstützen.“ Für die Mittagspause hat er ein schattiges Plätzchen am Fluss auskundschaftet und eine große Wassermelone als Erfrischung eingekauft. Auf einem Gaskocher wärmt er die Reste des Bohneneintopfs vom Vortag auf. Jeden Tag in der Früh stellt er den Jugendlichen ein Werk der Barmherzigkeit vor. In der modernen Fassung von Bischof Joachim Wanke heißen sie „Du gehörst dazu“, „Ich rede gut über dich“, „Ich gehe ein Stück mit dir“ oder „Ich bete für dich“. Auf den ersten Kilometern ist für alle genug Zeit um nachzudenken, was diese Werke für das eigene Leben bedeuten: „Was fühlst du, wenn du ausgegrenzt wirst? Wie kannst du andere integrieren und sie spüren lassen, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind?“ Gerade weil diese sieben Werke so konkret und alltagstauglich sind, werden sie von den Jugendlichen gerne aufgenommen. Sie sind eine Hinführung zum Thema dieses Weltjugendtreffens: „Selig die Barmherzigen“. Papst Franziskus hat junge Menschen aus der ganzen Welt eingeladen, auf ihrer Pilgerreise nach Krakau neu zu entdecken, was gelebte Barmherzigkeit bedeutet – zum Beispiel durch Meditation dieser sogenannten „Neuen Werke der Barmherzigkeit“.
Markus ist mit 15 Jahren zwar der Jüngste der Gruppe, doch auf dem Fahrrad meist vorne dabei. Der sportliche Schüler erfuhr von seinem älteren Bruder von der Radwallfahrt und dem Weltjugendtreffen und war sofort begeistert: „Sport und Glaube, das ist eine gute Kombi.“ Markus ist Ministrant in seiner Pfarrei und zum ersten Mal bei einem internationalen Jugendtreffen. Er freut sich am meisten auf das „Österreichertreffen in Krakau und die Messe mit dem Papst“. Mit scheinbar großer Leichtigkeit meistert er die Strapazen der Radtour: „Ich habe mich oft an das Hinterrad eines anderen drangehängt, das war eine große Hilfe.“
Auschwitz: Mahnung für die Zukunft
Am sechsten Tag der Radwallfahrt fährt die Gruppe bis Oświęcim und besucht abends die Gedenkstätte Auschwitz. In der Weltjugendtagswoche ist das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau nur für die Pilger des Jugendtreffens geöffnet, damit möglichst viele junge Menschen aus aller Welt diesen mahnenden Gedenkort des Tötens und der Unmenschlichkeit mit eigenen Augen sehen können. Schweigend und zugleich mit vielen Fragen gehen die Jugendlichen von Baracke zu Baracke mit dem unbehaglichen Gefühl, dass an diesem Ort tausende und abertausende Menschen den Tod fanden.
Bei der anschließenden Austauschrunde in der Gruppe sprechen die Jugendlichen sehr offen über das, was sie bewegt hat. Einer meint: „Ich frage mich, was in den Tätern vorgegangen ist, um zu solcher Grausamkeit fähig zu sein.“ Ein anderer aus der Gruppe zeigt sich fasziniert vom Mut des heiligen Maximilian Kolbe, der im Konzentrationslager Auschwitz für einen Familienvater freiwillig in den Tod ging. Und eine Radpilgerin fügt hinzu: „Es brauchte diese Orte der Geschichte, um für die Gegenwart und Zukunft zu lernen.“ Das Teilen der persönlichen Eindrücke und der Emotionen tut den Jugendlichen gut, auch wenn Fragen bleiben. Mit dem Lied „Ubi caritas, Deus ibi est“ und dem priesterlichen Segen beschließen sie den Tag und drücken aus, dass in der Liebe Gottes die stärkste Kraft ist.
Die letzte Etappe führt die Gruppe von Oświęcim nach Krakau, wo sich in diesen Tagen junge Menschen aus allen Kontinenten mit Papst Franziskus treffen. Im Stadtzentrum winken viele den Radpilgern entgegen – schließlich ist es eine Besonderheit, mit dem Fahrrad zum Weltjugendtreffen zu kommen. Nach vielen einsamen Stunden auf dem Rad ist hier volles Leben mit singenden Jugendgruppen und schwenkenden Fahnen. Sieben Tage Radpilgern gehen zu Ende und werden den teilnehmenden Jugendlichen lange in Erinnerung bleiben. Einer der Radpilger sagt im Rückblick: „Bei schweren Anstiegen und aufgrund der Hitze fühlte ich mich am Ende meiner Kräfte, doch die anderen motivierten mich.“ Gerade in Herausforderungen und Grenzsituation eine helfende Hand und ein gutes Wort zu spüren, war eine Grunderfahrung während dem Pilgern. Beeindruckt waren die Mitfahrenden von der großen Gastfreundschaft vieler Menschen auf dem Weg. Auch wenn es nur frisches Wasser auf der Strecke oder die freundliche Aufnahme im Quartier war – es waren Werke der Barmherzigkeit.
(Erschienen am 28. Juli 2016 in „Die Tagespost“)